«Was habt ihr getan, dass ihr eingesperrt seid?»

Für Menschen mit einer Beeinträchtigung oder Senioren sind die Schutzmassnahmen des Bundes besonders einschneidend. Das Besuchsverbot schlägt auf die Psyche – deshalb zeigen sich verschiedene Heime und Angehörige in dieser Zeit besonders kreativ.

Nervöses Wippen mit den Armen, die Füsse klopfen auf die Halterung am Rollstuhl, die Augen glänzen und sind vor Aufregung weit geöffnet und der Mund formt sich zu einem breiten Lachen. Schon von weitem ist die Vorfreude zu hören und zu sehen, wenn Angehörige ihre Liebsten aus Wohngruppen oder Heimen für Menschen mit einer Beeinträchtigung abholen.

«Ihre Struktur wurde unterbrochen»

Das Gefühl, nach Hause zu gehen, haben viele Menschen mit einer Beeinträchtigung derzeit nicht. Für Jugendliche und Erwachsene in Heimen gilt, wie in Altersheimen, ein Besuchsverbot – viele Aktivitäten wurden eingeschränkt. «Wir dürfen keine Ausflüge mehr machen», sagt Ladina Dörig. Sie ist Leiterin einer Wohngruppe der Stiftung Säntisblick in Degersheim. «Der Alltag hat sich komplett verändert. Wir bewegen uns nur noch rund um die Stiftung. Langsam haben wir alle möglichen Spaziergänge bereits mehrmals gemacht.»

Anfänglich sei die Situation für die Bewohner schwierig gewesen: «Ihre Struktur wurde unterbrochen. Sie hatten Schwierigkeiten, alles zu verstehen, beispielsweise, warum sie am Wochenende nicht mehr nach Hause dürfen.» Mit Hilfe von Piktogrammen und einfacher Sprache haben Ladina Dörig und ihre Mitarbeiter den Bewohnern die Situation aufgezeigt und erklärt. «Sie wurde gut aufgenommen und mittlerweile ist wieder Ruhe in den Alltag zurückgekehrt.»

«Wir hoffen, dass die Bewohner im Mai wieder nach Hause dürfen»

Diese Ruhe der Bewohner hat auch damit zu tun, dass der Kontakt zur Aussenwelt nicht ganz verloren gegangen ist. «Wir erhalten viele Briefe oder Videos und einige Bewohner wurden von den Angehörigen mit einem Tablet ausgestattet, mit dem sie jetzt trotzdem noch via Skype in Kontakt bleiben können», sagt Dörig. Die Wohngruppenleiterin merkt, dass sich die Eltern und Verwandten besonders viel Mühe geben, in dieser Zeit den Kontakt zu halten: «Eltern, die sich früher gegen Whatsapp und andere digitale Mittel wehrten, haben jetzt Tablets gekauft. Wir haben nicht erwartet, dass die Angehörigen so offen sind, das ist schön.»

Die Videotelefonie bereitet den Menschen in der Wohngruppe Freude: «Die Videotelefonie beruhigt sie, da sie sehen, dass es ihren Angehörigen gut geht. Das gibt ihnen Sicherheit.» Die Angst vom Anfang sei so gut wie verflogen, auch wegen der Entwicklung der Lage. «Durch die Lockerungen, die in Aussicht gestellt wurden, hoffen wir, dass einzelne aus der Wohngruppe im Verlaufe des Mais wieder zu ihren Angehörigen nach Hause dürfen.»

«Corona-Krise schlägt Heimbewohnern aufs Gemüt»

Die körperliche Nähe, die fehlt derzeit auch Grossmüttern, Grossvätern oder älteren Menschen in Alters- und Pflegeheimen. Auch diese dürfen keinen Besuch empfangen und versuchen, via Videotelefonie in Kontakt zu bleiben. Dennoch können persönliche Begegnungen damit nicht kompensiert werden, sagt Susanne Schwizer, Heimleiterin des Regionalen Pflegeheims Romanshorn: «Die ersten drei Wochen haben die Bewohner die besondere Lage gut wegstecken können, jetzt beginnt man zu spüren, dass das Ganze ihnen auf das Gemüt schlägt.»

Eine Bewohnerin habe kürzlich erzählt, wie ihr Enkel über den Zaun, der rund um das Altersheim errichtet wurde, fragte: «Grossmami, was habt ihr angestellt, dass ihr eingesperrt sein müsst?» Den Bewohnern fehle die Freiheit, längere Spaziergänge zu machen, in die Stadt zu fahren und vor allem, ihre Liebsten in die Arme zu schliessen.

Den Bewohnern fehlt der persönliche Kontakt, immerhin erhalten sie viele Briefe oder Zeichnungen von Angehörigen.

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Besuchsbox wird geprüft

Die Situation belastet die Bewohner teilweise so sehr, dass Psychiater zu Rate gezogen wurden und regelmässig Gesprächsrunden im Pflegeheim stattfinden, wobei sich die Senioren austauschen können. «Ich überlege mir tagtäglich, wie ich den Menschen noch mehr Nähe geben kann, ohne dabei die Schutzmassnahmen zu missachten», sagt Schwizer. Geprüft werde auch eine Besuchsbox, wie es sie schon im Altersheim Risi in Wattwil gibt.

Küchenchef wird zum DJ

Eine Auflockerung im Alltag der Heimbewohner bietet die eigene Radiostation. Eine Stunde wöchentlich gibt es dort ein Wunschkonzert und weil das normalerweise zwei Auswärtige machen, steht seit kurzem der Küchenchef hinter dem Mikrofon. «Wir erfüllen Musikwünsche, informieren die Bewohner aber auch über die aktuelle Situation und allfällige Änderungen», gemäss Susanne Schwizer schätzen die Bewohner das sehr. Auch gibt es verschiedene sportliche Aktivitäten in Kleingruppen, um trotz Coronavirus fit zu bleiben. «Wir organisieren ausserdem Filmnachmittage. Was den Leuten noch fehlt, ist der Coiffeur. Sie wollen sich wieder schön fühlen.»

Der Küchenchef wurde im Pflegeheim Romanshorn zum Dj.

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Die Situation sei herausfordernd, jetzt gelte es, durchzuhalten: «Wir versuchen den Menschen das Leben trotzdem so attraktiv wie möglich zu gestalten und ihnen kleine Freuden und Glücksmomente zu ermöglichen.»

Die Bewohner wurden durch Besuchsverbot ruhiger

Für die Bewohner der Wohngruppen des Ostschweizerischen Blindenfürsorgevereins Obvita in St.Gallen haben die Corona-Pandemie und die Schutzmassnahmen des Bundes auch ihre guten Seiten, sagt Marketing-Chef Markus Berger: «Seit dem Besuchsverbot sind die Bewohner viel ruhiger geworden.» Es herrschten weniger Aufregung und Stress. Das sei positiv: «Wir merken das auch bei uns, es besteht nicht mehr der Zwang, beispielsweise für einen Spaziergang nach draussen zu gehen. Man muss nichts mehr tun, sondern kann und das lässt einen ruhiger werden.»

veröffentlicht: 23. April 2020 05:31
aktualisiert: 23. April 2020 05:31
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