Jörg Wolters: «Und plötzlich war da überall diese Solidarität»

Jörg Wolters spielt seine Drehorgel - zur Freude auch der Kinder - auf Strassen und Plätzen im Tessin.
© Keystone/SAMUEL GOLAY
Jeder kennt Jörg Wolters im Tessin. Eine Kultfigur. Aus der Zeit gefallen. Mit seiner altertümlichen Drehorgel steht er seit über dreissig Jahren in Fussgängerzonen und auf Märkten. Aus Leidenschaft wurde der ehemalige Stahlwerker zum Strassenmusiker.

Schon von Weitem sind die unverwechselbaren Klänge der Drehorgel zu hören. Die Musik aus dem Instrument klingt nach «Belle Epoque», nach Grossstädten des frühen 20. Jahrhunderts, nach Hochrädern und Zylindern. Weniger nach Parkhaus, Fahrstuhl und Rolltreppe. Doch Jörg Wolters hat sich an diesem Vormittag für das Einkaufszentrum im Locarnese entschieden. Bis abends wird er hier spielen, ohne Unterbrechung, vor dem Bildschirm mit der Leuchtreklame.

«Ich gehe von meinem Platz nicht weg. Sonst sucht mich noch jemand», sagt der 60-Jährige, während er die Souvenirs mit seinem Konterfei auf der Drehorgel richtig platziert. Interviews gibt er, während er Musik macht. Zwei kleine Kinder bleiben stehen und schauen ihm fasziniert zu. Eines nähert sich schüchtern und wirft eine Münze in die Tasse. Wolters bedankt sich lächelnd und winkt. Auch auf der Tasse ist er abgebildet. Von den Souvenirs verkauft er nach eigenen Angaben mehrere Exemplare am Tag.

«Ob ich davon leben kann? Natürlich. Sonst würde ich etwas anderes machen. Aber ich mache es ohne finanzielle Gedanken.» Genau 31 Jahre ist es her, dass Jörg Wolters sich das erste Mal mit seinem Leierkasten auf die Strasse stellte. Erste Station war damals die Swissminiatur in Melide. Wolters, der grosse Mann mit dem Vollbart, ist eigentlich gelernter Stahlwerker, stammt aus Dortmund.

Dort lernte er eine junge Frau aus dem Tessin kennen, zog mit 23 Jahren in ihre Heimat, heiratete sie. Er nahm Jobs in Fabriken an. Bis er bei einem Drehorgelfestival in Lugano auf seine neue Leidenschaft traf. Was ihn daran faszinierte? Er kann es gar nicht erklären. Es passte einfach: «Einmal überliess ein Drehorgelspieler mir sein Instrument zum Ausprobieren. Er hatte bis dahin nichts eingenommen. Kaum stand ich an der Kurbel, warfen die Passanten Geld in den Hut.»

Seine erste Drehorgel baute Wolters selbst. «Nach der Scheidung. Denn meine Frau konnte mit meinem Hobby nichts anfangen.» Als Vorlage hätten ihm alte Pläne gedient, die er durch Zufall von einer älteren Frau bekommen habe. Diese wiederum sei im Nachlass ihres verstorbenen Mannes fündig geworden. «Es war Glück», betont der Strassenmusiker. «Denn solche historischen Baupläne sind nicht so einfach zu finden.»

Ein halbes Jahr lang habe er in seiner Freizeit an dem Instrument gearbeitet, jedes Bauteil selbst hergestellt. Er zimmerte die Holzverkleidung, konstruierte den Wagen, schliff Orgelpfeifen aus Metall und stimmte sie auf die richtigen Tonlagen ein. Auch das Herzstück der Drehorgel, den Blasebalg und die Abspielvorrichtung für die immer rarer werdenden Lochbänder, konstruierte er selbst.

Ob er vorab Erfahrung mit Musik und Instrumenten gehabt habe? Nein, nie, wie er sagt. Dabei ist eine mechanische Drehorgel auch im Unterhalt aufwendig. Wie andere Holzinstrumente verzieht sich die Drehorgel und muss regelmässig gestimmt werden. Die alten Notenrollen, die pro Stück mehrere hundert Franken kosten, enthalten meist nur vier Lieder und müssen ausgewechselt und mittransportiert werden. «Wichtig ist die Qualität: Wenn die Bänder nicht gut gemacht sind, klingt auch die Musik nicht gut.»

Heute führt Wolters einen moderneren Leierkasten mit sich, ein alltagstaugliches, etwas kleineres, digitales Abspielgerät. «Und ganz wichtig: Ich kann den Ton leiser stellen», sagt er. Das alte Instrument steht bei ihm zu Hause auf dem Tessiner Campingplatz, wo er bescheiden, aber zufrieden seit 20 Jahren lebt. Die Restauration der selbst gebauten Drehorgel sei zur Odyssee geworden. Wolters schmunzelt: «Der Blasebalg lag neun Jahre zur Reparatur bei einem Fachhändler. Ohne Ergebnis. Ich habe ihn dann wieder abgeholt.»

Wolters ist etabliert als Strassenmusiker im Tessin. Alle kennen ihn, den «Barbarossa». Bei Wochenmärkten und Stadtfesten im ganzen Tessin gehört er längst zum Ortsbild. Nur an wenigen Orten benötigt er eine Lizenz. Er fühlt sich wertgeschätzt. Nur einmal gab es eine Ausnahme. Und ausgerechnet dieser unschöne Zwischenfall machte ihn berühmt.

Wolters spricht vom 9. Dezember 2014. «Ich stand auf meinem Stammplatz in Lugano in der Via Nassa. Plötzlich steht ein privater Sicherheitsmann vor mir und sagt, ich soll verschwinden.» Die Betreiberin einer Edelboutique fühlte sich vom Drehorgelspieler offenbar belästigt. «Es war abends. Ich packte meine Sachen und ging.» Weniger gelassen reagierte ein benachbarter Marktstandbesitzer. Wütend postete er den Vorfall in den sozialen Netzwerken.

«Als ich am nächsten Tag im Einkaufszentrum spielte, kam plötzlich das Tessiner Fernsehen. Die Geschichte wurde überall bekannt.» Der Gemeindepräsident von Lugano musste die Gemüter beschwichtigen. Offenbar hatte sich bereits eine Gruppe Menschen zum «Besuch» der Boutique verabredet. Es kam zu einer formalen, medial dokumentierten Entschuldigung der Verkäuferin. Von da an habe jeder gewusst, dass er Jörg heisst. Er war in allen Zeitungen. «Für mich hat sich damals die Wahrnehmung verändert“, so Wolters. „Ich dachte immer, jeder Mensch ist alleine mit seinen Problemen. Und plötzlich war da überall diese Solidarität.»

Die Welle der Solidarität verebbte auch in der nachfolgenden Zeit nicht. Beim Karneval in Novazzano 2015 gab es einen «Jörg»-Themenwagen. Die Facebook-Seite des Strassenmusikers, die mithilfe des befreundeten Marktstandbesitzers alle Highlights dokumentiert, weist bis heute über 11'000 Abonnenten auf.

Tatsächlich sind Wolters und sein Leierkasten längst zum Gesamtkunstwerk geworden. Er war das offizielle Motiv des letzten Herbstmarkts in Lugano. Ausserdem dient er regelmässig als Vorlage für Gemälde, Skulpturen und Illustrationen. Als Figur tauchte er bereits in Weihnachtskrippen und im Kinderbuch «Storia randagia“ von Alfredo Stoppa auf. Meist erfahre er davon selbst nur durch Zufall, erzählt er. Hin und wieder bekomme er auch Anfragen für Hochzeiten oder andere Veranstaltungen. »Ich lasse die Leute dann entscheiden, was sie mir geben wollen. Ich habe keinen Preis."

Verfasserin: Antje Bargmann, ch-intercultur

veröffentlicht: 26. Juli 2019 09:02
aktualisiert: 26. Juli 2019 09:02
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