Zweiter Prozesstag gegen Belarusen endet ohne ein Urteil

Der 45-jährige Angeklagte steigt aus einem Fahrzeug vor dem Gerichtsgebäude in St.Gallen.
© KEYSTONE/GIAN EHRENZELLER
Im Prozess gegen ein ehemaliges Mitglied einer belarusischen Sondereinheit hat das Kreisgericht Rorschach noch kein Urteil gefällt. Dem Beschuldigten werden Beteiligungen an Morden gegen Oppositionelle des Lukaschenko-Regimes vorgeworfen.

Am zweiten Prozesstag gegen ein ehemaliges Mitglied einer militärischen Sondereinheit in Belarus gehörte das Wort der Pflichtverteidigerin des Beschuldigten. Der Tatbestand des Verschwindenlassens sei trotz Geständnis nicht erfüllt, führte die sie am Gericht in St.Gallen aus, wo der Prozess stattfand.

Ihr Mandant gab bei seinem Asylantrag an, 1999 an der Ermordung von drei oppositionellen Politikern in Belarus beteiligt gewesen zu sein. Erstmals verhandelt ein hiesiges Gericht den seit 2017 im Schweizer Strafgesetzbuch verankerten Artikel wegen Verschwindenlassens im Auftrag eines Staates.

Dieser Gesetzesartikel gründet auf einem Uno-Übereinkommen. Rund 30 Medienschaffende und mehrere Vertreter von Menschenrechtsorganisationen aus dem In- und Ausland reisten an die Verhandlung.

Verteidigerin verlangt Freispruch

Die Verteidigerin des Beschuldigten argumentierte vor Gericht, dass die von ihrem Mandanten geschilderten Fälle längst aufgeklärt seien. Ehemalige KGB-Offiziere hätten 2001 in einem Migrationsverfahren in den USA die damaligen Vorgänge der Taten detailliert geschildert. Entsprechende Informationen seien schon lange öffentlich zugänglich.

Ihr Mandant könne heute – trotz Geständnis – nicht mehr wegen Verschwindenlassens gemäss Schweizer Strafgesetzbuch verurteilt werden. Der Beschuldigte sei ausserdem lediglich Befehlsausführer gewesen, in einem Land, das sich zu einem autoritären Regime gewandelt habe und es keine Möglichkeit gegeben habe, nein zu sagen. «Er war ein kleines Rädchen in einer grossen Maschinerie.»

Der grossgewachsene und seit einem Unfall körperlich beeinträchtigte Beschuldigte erklärte am Dienstag vor Gericht, er habe damals Aufträge zur Entführung und Erschiessung von Personen mitausgeführt, nicht aber selber gemordet. Er entschuldigte sich bei den Hinterbliebenen der Opfer. «Sein Motiv ist, die Wahrheit ans Licht zu bringen», sagte seine Anwältin am zweiten Prozesstag.

Staatsanwalt fordert Verurteilung

«Sie müssen den Angeklagten verurteilen», appellierte hingegen die Staatsanwaltschaft an die Richter. Der Mann habe Details zu den Taten genannt, die nur Insider kennen könnten. Und es sei bewiesen, dass er jener Sondereinheit angehörte, die Oppositionelle verschwinden liess. Ihm sei klar gewesen, dass jenes Vorgehen nicht rechtens war. «Er hat mit Vorsatz gehandelt.»

Die Staatsanwaltschaft forderte drei Jahre Freiheitsentzug, wobei ein Jahr zu vollziehen sei, falls das Gericht die Beteiligung an den drei Morden feststellt. Eine Eventualanklage der Staatsanwaltschaft sieht andernfalls vor, den Mann wegen Irreführung der Rechtspflege zu einer bedingen Freiheitsstrafe von neun Monaten zu verurteilen.

Quelle: TVO

Richter zweifeln an Glaubwürdigkeit

Der Prozess drehte sich auch um die Frage, ob die Aussagen des Angeklagten zu seiner Beteiligung an den Morden glaubwürdig sind, oder ob er sie äusserte, um einen positiven Asylentscheid zu erhalten.

Bereits bei der Befragung des Angeklagten zu Beginn der Verhandlung am Dienstag strich der vorstehende Richter Widersprüche zwischen den aktuellen Schilderungen und getätigten Aussagen des Beschuldigten an früheren Befragungen hervor. Der Belaruse begründete die Ungereimtheiten vor Gericht mehrfach mit Übersetzungsfehlern.

Hinterbliebene verlangen Genugtuung

Am Prozess im Saal des Kreisgerichts St. Gallen waren auch zwei Töchter der damals ermordeten Oppositionspolitikern anwesend. Ihr Rechtsvertreter verlangte ebenfalls eine Verurteilung. Zu seinen Mandantinnen zählte die Tochter des ehemaligen Innenministers von Belarus. Im Namen der beiden Hinterbliebenen stellte er den Antrag auf eine Genugtuung von je 200'000 Franken .

Den Prozess verfolgten auch Vertreter unabhängiger russischsprachiger Medien. Der 1999 verschwundene Innenminister hätte das Potenzial gehabt, «die damals aufkommende Diktatur in Belarus im Keime zu ersticken», erklärte der Anwalt der Hinterbliebenen.

Das Kreisgericht Rorschach stellte das Urteil für kommende Woche in Aussicht.

Quelle: TVO

Einblicke in den Prozess

Reporterin Carmen Frei hat während zwei Tagen das Prozessgeschehen für TVO vor Ort mitverfolgt. Im Gespräch mit Moderator Sven Lenzi schildert sie unter anderem den immensen Andrang von internationalen Medien in St.Gallen:

Quelle: TVO

(sda/red.)

veröffentlicht: 20. September 2023 09:26
aktualisiert: 20. September 2023 21:24
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