100 Abfuhren und «Hemmige»
«Kennen Sie Laurentia?», frage ich zwei ältere Damen auf der Strasse. Die Frauen kichern und sagen «natürlich». Strahlend setze ich an: «Laurentia liebe Laurentia mein, wann werden wir wieder beisammen sein? Am Montag?» Und gehe an den richtigen Stellen in die Knie, wie es Sinn und Zweck dieses Liedes ist.
Die Frauen lachen, dies ist aber auch der einzige Laut, den die zwei Mittsechziger hören lassen. Die Hände verwerfend und mit einem wiederholten «jesses nei, ich bin nicht gut im Singen» entfernen sie sich fluchtartig.
Mit einem Mikrofon in der einen und Gesangsblättern in der anderen Hand wollte ich von den Stadt-St.Gallern wissen, ob sie sich noch an die alten Klassiker aus den Schulbüchern erinnern können.
«Es wott es Fraueli z'Märit go»
Eine Gruppe junger Burschen mit Zahnspange und verschmitzem Grinsen kann es. Tatsächlich lässt sich einer der Teenager zum Singen überreden und so trällert er mit seinem bereits eingesetzten Stimmbruch einen Klassiker nach dem anderen. Cool! Aber mehr als die ersten beiden Zeilen eines Liedes vermag er nicht zu singen nach ein paar Minuten ist der «Gschpass» auch schon vorbei.
Eine etwas schiefe Version von «Es Fraueli wott z'Märit go, z'Märit go, s wott de Maa diheime loh», singt eine Frau um die 30 und erinnert sich an ihren Gesangsunterricht in der Schulzeit: «Ich habe es immer gern, wenn auch nicht so gut gemacht.»
«Wo ist die Kokosnuss?»
Etwas später treffe ich eine Mutter mit zwei Kindern an: Einen Schritt nach vorne macht die kleine Sofia. Sie möchte sehr gerne singen und tut das aus voller Überzeugung. Gemeinsam mit der Schwester und der Mutter singt sie «Die Affenbande» und blüht bei «Wer hat die Kokosnuss, wer hat die Kokosnuss, wer hat die Kokosnuss geklaaaauuut» richtig auf. Sehr schön.
Auch zwei brasilianische Austauschstudenten lassen sich zu einem Kinderlied in ihrer Sprache überreden und eine junge Frau erinnert sich bei «S’Ramseyers wey go grase» an ihren Ex, dessen Nachname Ramseyer war und sie ihm deshalb immer dieses Lied vorgesungen hat. «Singen verbindet einfach», denke ich nach dieser Erfahrung und fühle mich darin bestätigt, dass die Menschen sich beim Singen gerne an früher erinnern.
«Ich kenne keine Lieder»
Von da an geht es aber steil bergab. Menschen machen nur schon beim Anblick des Mikrofons und der Kamera einen grossen Bogen um mich und Kamerafrau Noémie. Oder wir hören nur Ausreden wie: «Ich kenne keine Lieder mehr aus der Schule», «Ich kann nicht singen» oder «Schule? Was ist das?».
Traurig und enttäuscht setze ich mich nach gefühlten hundert Abfuhren im Schneidersitz auf den Steinplättchenboden in der St.Galler «Lädelistross» und singe alleine vor mich hin: «S git Lüüt die würdet allewäge nie, es Lied vorsinge so wie ig jetzt hie, die singe um kei Priis, nei bhüetis nei, will sie Hemmige hei!» Ach Mani Matter, wie recht du hast, ich hätte es wissen müssen, aber wie stand es im Schul-Liederbuch «Sing Ais» in der Primarschule schon: «S’ischmer alles ei Ding, obi lach oder sing, han es Herzeli wienes Vögeli, darum liebeni so ring.»