Psychologe zum Fall Bühler: «Jugendliche sind gewalttätiger geworden»

Quelle: Leserreporter / TVO / FM1Today

Die Jugendlichen in der Ostschweiz werden immer aggressiver. Das zeigen nicht nur die Zahlen der Polizeistatistiken, sondern auch diverse Videos auf Social Media. Woran liegt das? Noch immer die Corona-Pandemie, die Eltern, Tik Tok? Ein Experte ordnet ein.

Kaputte Selecta-Automaten, wilde Sprayereien, Schlägereien im Ausgang: Meldungen über auffällige und aggressive Jugendliche gibt es immer wieder. Videos auf Social Media befeuern das Ganze nur zusätzlich. Erst vor einigen Tagen wurde FM1Today ein solches Video zugeschickt. Zu sehen ist ein Jugendlicher, der am Bahnhof Bühler auf einen Bildschirm der Appenzeller Bahnen einschlägt – und das so lange, bis er zerstört ist.

Auch die Zahlen der Kriminalstatistik des Kantons St.Gallen sprechen eine eindeutige Sprache:

(Die Statistiken der Kantone Thurgau und beider Appenzell fehlen, weil die Delikte nicht so detailliert nach Alter ausgewiesen sind.)

Das löst bei Aussenstehenden vor allem etwas aus: Unverständnis. Roberto Sansossio, Psychologe und Psychotherapeut, sieht in solchen Taten aber viel mehr als einfach nur frustrierte Teenager. Im Interview gibt er Einblicke in die jugendliche Gedankenwelt.

Zu Beginn: Welche Begriffe passen zur Stimmung der heutigen Jugend?

Roberto Sansossio: Unsicherheit, Frustration, Hilflosigkeit, Angst, Zorn und teilweise Gleichgültigkeit. Das sind Dinge, die zwar nicht bei allen, aber vielen Jugendlichen prominent sind. Seit dem Jahr 2020 kennen die Jugendlichen eigentlich nur das Wort «Krise». Coronazeit, Klimawandel, Kriege, Inflation. Die Geschehnisse auf der Welt helfen da natürlich nicht.

Geht es den Jugendlichen erst seit kurzem so schlecht oder sieht man es jetzt einfach mehr?

Früher waren die Vernetzung und die Kommunikation beschränkter. Man hatte eine Art lokalen Schutz, weil man nur diese Realität hatte. Heute sind alle informiert. Bei jungen Persönlichkeiten, die noch nicht ausgereift sind, kann diese Menge an Negativität eine Rolle spielen. Das heisst nicht, dass die heutigen Jugendlichen schwächer sind als früher. Die Umstände und die Möglichkeiten sind einfach andere. Mir ist aber wichtig, zu betonen: Die grosse Mehrheit der Jugendlichen ist gut unterwegs. Es ist nicht alles nur schlecht.

Was tatsächlich mehr ist, ist laut Polizeistatistik die Anzahl an Sachbeschädigungen. Sind Jugendliche heutzutage aggressiver?

Die Gewaltbereitschaft ist sicherlich gestiegen. Ich glaube, ein Grund dafür könnte sein, dass die Jugendlichen eine andere Einstellung haben. Gewalt anzuwenden, ist heutzutage akzeptierter als in der Vergangenheit.

Wenn wir den aktuellen Vorfall in Bühler anschauen, was löst das in Ihnen aus?

Mir tut das leid. Ich habe in meiner Laufbahn überwiegend mit Jugendlichen gearbeitet, die eine gewisse kriminelle Energie hatten. Und ich muss ganz klar sagen, wenn man die Jugendlichen richtig begleitet, kann man viel bewirken. Meiner Erfahrung nach werden Leute, die die Sinnlosigkeit einer Sache erkennen, nicht rückfällig.

Welche Rolle spielt die Herkunft?

Ich denke keine. Wichtig sind die sogenannten Sozialisationsfaktoren: Kinder, die gewaltvoll erzogen wurden, neigen eher dazu, selbst gewalttätig zu sein. Jugendliche, die ein kriminelles Umfeld haben, sind auch gefährdeter. Wenn Jugendliche schlechtere Bildungschancen haben, haben sie ebenfalls ein erhöhtes Kriminalitätsrisiko.

Hat Social Media eine Mitschuld an dieser Entwicklung?

Cool auf Social Media zu sein und die Likes und Kommentare, die man bekommt, spielen sicherlich eine Rolle. Viele Leute haben heutzutage die Tendenz, online alles zu teilen. Die Hemmschwelle, gewisse Dinge zu zeigen, sinkt. Social Media ist wie ein stiller Zuschauer, der immer dort ist.

Dass man über Social Media alles mitbekommt, kann auch ein Vorteil sein. Sind wir nicht alle viel aufgeklärter über solche Themen?

Das schon. Aber mit Social Media hat man einen einfacheren Zugang zu gewalttätigen Inhalten. Dadurch wird das für viele zur Normalität. Und was normal ist, ist einfacher anzuwenden. Die Menge an negativen Inhalten ist viel grösser als vor 20 oder 30 Jahren.

Können wir als Gesellschaft etwas machen?

Ich appelliere an die Eltern. Sie müssen wirklich versuchen, mit ihren Kindern in Kontakt zu bleiben, auch wenn es nicht einfach ist und sich die Kinder zurückziehen. Auch wenn keine Antwort von den Jugendlichen kommt, bleibt in Kontakt – auch wenn sie in dem Moment nicht gut kommunizieren können.

Die Eltern allein kann man aber nicht in die Pflicht nehmen. Müsste man auch in der Schule schon eingreifen?

Die Schule hat eine ergänzende Funktion. Familien und Schulen sollten gemeinsam den Fokus aufs Informieren legen. Es ist wichtig, die Jugendlichen frühzeitig zu informieren. Sie müssen hören, was Gewalt bedeutet oder was Medien bedeuten. Ich denke, es fehlt an Bewusstsein. Jugendliche sehen oft nur die kurzfristige Belohnung. Mittel- und langfristig können sie gar nicht denken – dafür brauchen sie die Eltern.

Roberto Sansossio ist Psychologe und Psychotherapeut. Unter anderem war er am KJPD des Kantons Schwyz, bei der Fachstelle Sucht in Pfäffikon und bei punkto Eltern, Kinder & Jugendliche beschäftigt. Zudem war er zehn Jahre Vorstandsmitglied der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen, davon ein Jahr Präsident. Seit Sommer 2023 ist er Institutionsleiter am Johanneum, einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung im Toggenburg.

© St.Galler Tagblatt/Sascha Erni
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veröffentlicht: 26. Oktober 2023 19:46
aktualisiert: 27. Oktober 2023 05:51
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