«Ich wäre niemals so selbständig ohne das Skifahren»

Der Toggenburger Ueli Rotach hatte mit fünf Jahren einen Hirnschlag – er kämpfte sich zurück und ist jetzt erfolgreicher Behindertensportler. Der 18-Jährige erzählt von Mobbing in der Schule und wie das Skifahren sein Weg in die Selbständigkeit war.

Es ist früh. Die Sonne klebt noch am Selun, dem letzten der sieben Churfirsten, lässt aber die Sonnenseite Wattwils, den Schmidberg, bereits hell erleuchten. Hier «Sunnehalb», wie die Einheimischen sagen, wohnt Ueli Rotach. Der 18-jährige Toggenburger hat Ferien. «Schön habt ihr es hier», Ueli nickt und bittet mich in die warme Stube, in der ein gemütliches Feuer im Kamin lodert und von wo aus alle sieben Churfirsten wie ein Panoramabild in den langen, grossen Fenstern zu sehen sind.

Beim Gang in die Stube ist Uelis körperliche Beeinträchtigung erkennbar. Eine Art Hinken des linken Beins. Auf der Treppe sind mehrere Paar Ski zu sehen. «Alles meine», erklärt Ueli Rotach und sein Vater Fredli Rotach ergänzt: «Die solltest du eben noch wegräumen.»

Ueli Rotach beim Skifahren. Er absolviert Rennen im Europacup.

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Ueli Rotachs grosse Leidenschaft ist das Skifahren. Erst kürzlich wurde er von der Behindertensportorganisation Plussport zum Nachwuchssportler des Jahres gekürt. «Klar macht mich das stolz und spornt mich zum Weitermachen an.» Nicht immer waren Ueli Rotach und seine Eltern so optimistisch. Der 18-jährige Polymechaniker-Lehrling nimmt mich mit auf eine Zeitreise – als sich das Leben der Familie Rotach innerhalb eines Tages veränderte.

«Meine Eltern wussten nicht, ob ich überlebe»

«Als ich fünf Jahre alt war, hatte ich einen Hirnschlag», der Teenager wirkt abgeklärt, scheint einen guten Umgang mit seiner Lebensgeschichte gefunden zu haben. «Ein Blutgefäss in meinem Gehirn wurde durch ein Blutgerinnsel verstopft, dadurch konnte das Blut nicht mehr zirkulieren und das Hirn wurde nicht mehr mit Sauerstoff versorgt. Dabei sind einig Sachen kaputt gegangen.» Die Eltern von Ueli Rotach fuhren damals vor rund 13 Jahren sofort ins Spital in Wattwil, welches die Familie ans Kinderspital verwies. «Zu diesem Zeitpunkt wussten meine Eltern nicht, ob ich überlebe oder nicht.»

Er überlebte und wurde auch nicht schwerstbehindert, wie die Ärzte vorerst prognostizierten. «Sie meinten, ich würde mein Leben lang auf fremde Hilfe angewiesen sein. Dann begann ich aber bereits in der Reha wieder zu reden, zu sitzen, krabbeln, schlucken und laufen.» Für seine Eltern sei es eine sehr schwierige Zeit gewesen. «Ich selbst habe damals noch nicht viel von der Welt verstanden. Es war aber sicher ein harter Weg.»

Ueli Rotach als kleiner Bub beim Skifahren (links) zusammen mit seinen Brüdern.

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«In der Schule bezeichneten sie mich als Krüppel»

Schliesslich entwickelte er sich wie ein normales Kind – einzig einige Bewegungsabläufe beim Laufen kann Ueli Rotach bis heute nicht mehr: «Man muss sich das so vorstellen: Ein Mensch hat eine Art Kabelband, das mega viele Informationen an den Körper gibt. Bei mir ist dieses Kabelband kleiner und deshalb weniger schnell. Einige Informationen kommen beim Körper nicht an oder langsamer an.» Er könne beispielsweise seine linke Unterseite und den Rumpf nicht ansteuern, deshalb knicke sein Bein manchmal ein und beeinträchtigt ihn beim Laufen.

Nach einer achtmonatigen Reha durfte Ueli Rotach als Kind wieder zurück in die 1.Klasse in den Schmidberg. «Die Kinder dort wussten, wie sie mit mir umgehen müssen. Sie kannten mich ja bereits vor dem Hirnschlag aus dem Kindergarten. Ich habe mich da sehr integriert gefühlt.» Auch seine beiden Brüder hätten ihn überall hin mitgenommen.

Als Ueli Rotach dann aber in der 4. Klasse in ein anderes Schulhaus wechselte, habe sich die Situation verändert: «Die Schüler begannen, mich zu mobben, die sagten beispielsweise: ‹Krüppel, lauf doch einmal richtig.› Ich war zu diesem Zeitpunkt recht zerbrechlich und es hat mich schwer getroffen, so dass ich beschloss, die Schule zu wechseln.»

In der 4. Klasse wurde er gemobbt und wechselte anschliessend nach St.Gallen.

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«Ich konnte mein Selbstwertgefühl aufbessern»

Der Toggenburger kam in die CP-Schule, eine Schule für Kinder mit körperlichen Beeinträchtigungen, nach St.Gallen. Dort war er einer der besten: «Es war wie auf rosa Wolken, eine Art Plauschfabrik für mich – ich habe die Zeit sehr genossen, konnte mich aufladen, Selbstvertrauen tanken und mein Selbstwertgefühl aufbessern, das in der Schule zuvor zerstört wurde.»

Nach vier Jahren beschloss er gemeinsam mit seinen Eltern und Lehrpersonen, wieder in die Regelschule zu wechseln. «Ich hatte Angst, dort wieder gemobbt zu werden, aber der Wechsel war ein Erfolg.» Er sei ein anderer Ueli gewesen, habe einige von der Klasse bereits gekannt und Beleidigungen prallten an ihm ab, wie an einem Felsen. Nach der Schule fand er eine Lehrstelle als Polymechaniker in Wattwil, die er seit Sommer absolviert.

«Manchmal zwickt es mich herum, wenn ich den ganzen Tag stehen muss, aber sonst geht bei der Arbeit alles tip top.» Besonders glücklich ist Ueli Rotach bei seinem Arbeitgeber auch aufgrund dessen Verständnis für Uelis grosse Leidenschaft – das Skifahren.

Der Rennplan wurde aufgrund des Coronavirus auch bei Ueli Rotach durcheinander gebracht.

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«Ich bin doch nicht behindert»

«Das war auch so eine Geschichte», sagt Ueli Rotach und lacht. Anfänglich fuhr er ganz normal Rennen mit den anderen Clubmitgliedern des Skiclubs Ulisbach. Dann sei er aber zu alt geworden, wechselte in die Renngruppe. «Die waren aber oft im Tiefschnee unterwegs und die Leiter mussten mir dort immer mit dem Aufstehen helfen.» Deshalb habe er dort nicht mehr mitfahren können. Ein Jahr lang fehlten ihm die Perspektiven – «eine antriebslose Phase» – beschreibt er diese Zeit heute. Dann die Wende: «Ein Betreuer in der Schule in St.Gallen fragte mich, ob ich beim Behindertensport teilnehmen wolle. Ich hatte damals einen falschen Stolz und sagte nur: ‹Ich bin doch nicht behindert und lasse mich nicht auf dieses Niveau herunter.›»

Schliesslich hätten ihn seine Eltern doch überreden können und er fand Gefallen an den ersten Rennen. Ziemlich schnell wurde er für das Nachwuchskader der Schweiz angefragt und er sagte freudig zu. «Das Skifahren war die Initialzündung für mein Leben. Ich denke, ich wäre niemals so selbständig, wenn ich das Skifahren nicht gehabt hätte. Ich wäre niemals die Person, die ich jetzt bin.» Skifahren sei für den 18-Jährigen einfacher als laufen.

Skifahren ist für Ueli Rotach weniger anstrengend als laufen.

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«Mein Ziel sind die Winter-Paralympics»

Das Coronajahr ist auch für Ueli Rotach ein spezielles Jahr. Viele Europacup-Rennen seien ungewiss und auch die Trainings können aufgrund des Coronavirus nur schwer geplant werden. «Man muss recht spontan bleiben.»

Klare Ziele hat der Toggenburger aber für die Zukunft, genauer für das Jahr 2026: «Dann will ich mit dem Nationalkader an die Winter-Paralympics in Italien.» Bis dahin schaut der Toggenburger fleissig seinem Vorbild Beat Feuz Tricks ab: «Es ist immer gut, sich an viel besseren Leuten zu orientieren, weil man nie so gut sein wird wie diese und deshalb immer dranbleibt und weiterarbeitet.»

Ueli Rotach begleitet mich zur Tür, vorbei an dem flackernden Feuer, den nun im Schatten der Wolken liegenden Churfirsten – und den Ski auf der Treppe. Doch noch bevor sein Vater ihn erneut ermahnen kann, verschwinden Ueli samt Ski im unteren Stock.

veröffentlicht: 4. Januar 2021 05:39
aktualisiert: 4. Januar 2021 05:39
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