«Es braucht wieder mehr Menschlichkeit» – wie eine St.Gallerin Flüchtenden auf Lesbos hilft

Quelle: FM1Today/Philomena Koch

In den letzten Jahren sind die griechische Insel Lesbos und sein Flüchtlingslager etwas in Vergessenheit geraten. Noch immer kommen dort pro Monat hunderte Menschen an. Eine St.Gallerin erzählt über ihre Zeit vor Ort mit einer Ostschweizer Hilfsorganisation.

Es lässt sich kaum an beiden Händen abzählen, als Taina Frischknecht ihre Aufgaben im Gemeinschaftszentrum auf Lesbos aufzählt: Getränke im Café servieren, Essensportionen verteilen, Unterhaltungsprogramm und psychosoziale Unterstützung anbieten, Sicherheitsdienst ausführen, um einige ihrer Tätigkeiten zu nennen. Während etwa zweieinhalb Monaten war die 26-jährige St.Gallerin für ein Partnerprojekt des St.Galler Vereins Paréa auf der griechischen Insel im Einsatz, freiwillig. Das Ziel des Projekts: Menschen auf der Flucht zu unterstützen und in einem Gemeinschaftszentrum – unweit des Flüchtlingslagers – etwas Abstand vom belastenden Alltag zu geben.

Von gemeinschaftlich bis bedrückend

Ein Zweifel vor Taina Frischknechts Einsatz war die Sprachbarriere, der sich vor Ort aber schnell wieder verflüchtigte. «Es ist so egal, welche Sprache man spricht. Man verständigt sich einfach. Vieles läuft auch über Humor oder die Übersetzung mit Hilfe von Community Volunteers – Freiwillige, die selbst im Flüchtlingslager leben», sagt sie.

Wenn gar nichts mehr ging, habe sie den Google-Übersetzer zu Hilfe genommen. Von Mitte Oktober bis Weihnachten war sie jeweils von 10 bis 16 Uhr in den oben erwähnten Tätigkeitsbereichen eingeteilt. «Ich lernte so viel. Ich war beispielsweise gemeinsam mit anderen Volunteers und dem Koordinationsteam für die Sicherheit von etwa 600 Leuten zuständig, das hätte ich mir anfangs nie zugetraut», sagt die studierte Sozialarbeiterin weiter.

Von melancholischen und gemeinschaftlichen bis hin zu bedrückenden und tragischen Momenten habe sie während dieser Zeit alles erlebt. Für sie ein schwieriges Spannungsverhältnis. «Wir haben mit Menschen aus der ganzen Welt zu Abend gegessen und zu Musik aus verschiedensten Ländern getanzt. Jeder und jede hat etwas mitgebracht und wir sassen an einem grossen Tisch. Alles wurde zu einem grossen Ganzen», erinnert sich die St.Gallerin, als sie nach besonders schönen Erlebnissen gefragt wird. Sie gerät ins Schwärmen, erzählt, wie schön die Insel ist und die Hauptstadt Mitilini.

«Hinter jedem Asylsuchenden steht ein Mensch»

Gleichzeitig werde man mit den krassen Kontrasten von ankommenden Booten und dramatischen Geschichten konfrontiert. Ihr kommt eine weitere prägende Erinnerung in den Sinn: «Wir besuchten einen Friedhof, der von einer Einheimischen gepflegt wird. Flüchtende, welche die Überfahrt nicht überlebt haben, werden dort begraben. Alles war sehr spärlich, mit sehr wenigen Mitteln umgesetzt. Ein sehr schwieriger Ort, den wir schwermütig verliessen.» Es seien Momente gewesen, in denen sie mit ihrer eigenen Herkunft, der Schweiz, und ihren Privilegien zu kämpfen hatte.

Das Gemeinschaftszentrum von Paréa besuchten im Jahr 2023 insgesamt 87'971 Menschen. Im Januar 2024 waren es über 10'000 Personen. «Hinter jedem Asylsuchenden, jeder Asylsuchenden, steht ein Mensch. Das darf man in unserem Kontext in der Schweiz nicht vergessen. Dieses Verständnis konnte ich für mich vor Ort schärfen», ist Frischknecht überzeugt. «In unserer schnelllebigen, westlichen Welt braucht es wieder etwas mehr Menschlichkeit.» Diese Erkenntnisse möchte sie künftig für ihre Arbeit im Schweizer Migrationswesen nutzen.

Mehr Eindrücke über das Gemeinschaftszentrum und Taina Frischknechts Erfahrung auf Lesbos bekommst du oben im Video.

Situation im Camp hat sich verschlechtert

Wegen des abgebrannten Flüchtlingslagers Moria im Jahr 2020 beherrschte die Insel während langer Zeit die Schlagzeilen. Praktisch auf einen Schlag wurden damals über 20'000 Menschen obdachlos. Womöglich ist die Situation vor Ort durch andere Ereignisse wie den Ukraine-Krieg, das Erdbeben in der Türkei und den Nahost-Konflikt in den Hintergrund geraten.

Zu Unrecht, denn die Situation im Flüchtlingslager habe sich in den letzten Jahren verschlechtert, weiss Arno Tanner, Mitgründer von Paréa St.Gallen. «Im Dezember 2021 war das Camp unterbesetzt, die Situation verhältnismässig ruhig. Wir hatten auch im Gemeinschaftszentrum wenig Leute. Heute hat das Lager eine Kapazität von etwa 3500 bis 4000 Personen. Es leben jetzt aber 5000 bis 5500 Menschen dort», erzählt Tanner weiter, der selbst etwa alle sechs Monate nach Lesbos reist.

Er spricht von einer «tragischen Höchstzahl», die seit langem wieder erreicht wurde. Hygienestandards seien nicht gewährleistet, dadurch sei die Krankheit Krätze ausgebrochen, es gebe eingeschränkten Zugang zu Essen und monatelange Wartelisten für psychologische Unterstützung. Die Situation den Bedürfnissen entsprechend anzupassen, dazu sei man momentan finanziell nicht in der Lage.

Hoffnung nicht nehmen lassen

Tanner sieht sich noch mit weiteren Herausforderungen konfrontiert. «Man möchte in einer humanitären Krise helfen. Trotzdem ist alles, was du machst, eine Reaktion auf die Auswirkungen, was seitens lokaler Behörden und EU-Politik bestimmt wird», sagt er.

Und das, obwohl Paréa und alle anderen NGOs als spendenfinanzierte Vereine damit eigentlich die Arbeit des griechischen Staats und der EU übernehmen würden, so Tanner weiter. Davon möchte sich der Gossauer aber nicht die Hoffnung nehmen lassen und ist überzeugt von der Notwendigkeit seiner ebenfalls freiwilligen Tätigkeit auf Lesbos. Junge Menschen wie Taina Frischknecht, die sich einsetzen und helfen wollen, geben ihm Hoffnung und Zuversicht.

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veröffentlicht: 25. Februar 2024 06:30
aktualisiert: 27. Februar 2024 08:14
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