«Haarscharf am Original vorbei»
Es gluckst unter Wasser, geisterhaftes Gemurmel mischt windartiges Rauschen auf, daneben hebt klar und zerbrechlich das Spiel einer Glasharfe an. Einer alten Zither entlockte Klänge tragen die Hörer in die Vergangenheit und gleichzeitig in die Gegenwart neuartig rhythmisierter Volkslieder. Ein kleiner Handventilator erhebt seine surrende Singstimme, ein Plattenspieler dreht seine Runden. Ein Eierschneider ist über eine Büchse gespannt. Es erklingt in hohe Höhen entrückt die Stimme Anna Trauffers, oftmals eher gehaucht denn gesungen.
Die 1980 geborene und im ländlichen Emmental aufgewachsene Musikerin hat an der Musikhochschule Bern bei Bela Szedlak, dem Mitbegründer des Quartetts «I Salonisti», Kontrabass studiert. Sie ist seit Jahren in den Bereichen Musiktheater, Improvisation und Performance tätig.
Ein besonderes Faible hat sie für die Literatur, der sie sich als singende Bassistin mit eigenwillig gestimmten Interpretationen nähert. Oftmals geht sie auch den umgekehrten Weg und sucht nach einem Text als Anregung für Musik zu einem Theaterstück oder eine eigene Komposition. Eugen Gomringer hat mit seinem Gedicht «Kein Fehler im System», bei dem alle möglichen Buchstabenfolgen durchgespielt werden, mehrmals inspirierend gewirkt.
Eine Orchesterstelle konnte sich Anna Trauffer nie vorstellen. Lieber lässt sie sich auf ungewöhnliche Projekte ein, etwa auf die Idee, zusammen mit Christoph Coburger und ihrem Partner Philipp Schaufelberger hundert alte Postkarten zu sammeln und diese zu vertonen, gemeinsam oder allein, als Lied oder als Hörspiel. Für eine Solokomposition erhielt sie eine leicht kitschige Karte mit einem handgemalten Mandelbaum. «So nütelig», sagt sie in ihrem hörbar gebliebenen Berner Dialekt.
Auch das Pfeifen beherrscht Trauffer virtuos. Um sich als Kind Vogelmelodien zu merken, hatte sie sich diese innerlich als Notenbilder aufgeschrieben. Sie hatte sich über Melodien Begriffe angeeignet. Wie der eigene Mund gehört auch die Spieluhr zu ihren schlichtesten Instrumenten. Es reizt sie, mit geringsten Mitteln eine ursprüngliche Klangwelt hervorzuholen.
Spieluhren erinnern an die Kindheit. Sie bergen gleichzeitig ein überraschendes Aufmerksamkeitspotenzial, wenn man ihnen als Erwachsene wieder begegnet. Man folgt dem leisen Rattern der Kurbel und dem sanften Schleifen des Lochkartenpapiers am Gehäuse. In wenigen Sekunden scheint das ganze Leben vorbeizuziehen, mit langsameren und schnelleren Tempi, bevor der Papierstreifen abgerollt ist, aus der Führung der Spieluhr fällt und am Ende auf den Boden gleitet.
«Ich habe schon einen Hang zur Melancholie», sagt sie, «doch in meinen Auftritten sind auch Witz und Humor spürbar.» Lieder in Moll verbindet sie mit einer sanftmütigen Nachdenklichkeit. Dass sie sich so intensiv mit alten Volksliedern auseinandersetze, sei eine rein persönliche Sache und helfe ihr, die Wurzeln ihrer Herkunft zu pflegen. In ihrer Rolle als Profimusikerin muss sie eine eigene Interpretation finden. «Ein so bekanntes Liebes- und Sehnsuchtslied wie ‹Wie die Blümlein draussen zittern› kann ich im Kunsthaus Bregenz oder im Zürcher Jazzclub Moods singen, aber sicher nicht in der Originalversion.»
Die «Reharmonisierung» ist ein häufig genutzter Ansatz. Dabei geht Anna Trauffer von einer gegebenen Melodie aus, die sie immer wieder auf dem Klavier oder der Zither spielt, auch singt, um allmählich damit zu beginnen, sich von weit entfernten Melodien zu begleiten. Sie sucht nach neuen Hörweisen und nutzt gezielt Uminstrumentierungen und Phasensprünge, um Irritationen auszulösen.
Jüngst erhielt sie als «Artist in Residence» die Carte-Blanche für herausragende Musikerinnen aus dem Raum Zürich, drei Abende im Moods zu gestalten. Mit Ravels berühmtem 2. Klavierkonzert im Ohr und gleichgesinnten Musikerfreunden experimentierte sie damit, «haarscharf am Original vorbei zu schrammen».
Seit 2004 wird Anna Trauffer vom «ensemble für neue musik zürich» als «ganz normale» Kontrabassistin für die Interpretation zeitgenössischer Musik angefragt. Als die Ensemblemitglieder die Vielseitigkeit der Musikerin entdeckten, folgten Engagements als singende Bassistin. Im Jahr 2012 erhielt sie schliesslich einen Auftrag für eine abendfüllende Komposition, der mit der Erarbeitung einer szenischen Einrichtung verbunden war.
Auch für ihre eigenen Auftritte hinterfragt Trauffer die frontale Ausrichtung zum Publikum. Die sechs Musiker betraten die Bühne mit ihren Instrumenten, als ob sie behutsam Babys in ihren Armen tragen würden. Das natürliche Agieren wurde wichtiger als das virtuose Musizieren. Anna Trauffer hat keine Gesangs- und Sprechausbildung, was ihren Auftritten den besonderen Charme und Charakter verleiht.
Wenn sie den Autor Tim Krohn in musikalischen Lesungen wie dem legendären «Vrenelis Gärtli» begleitet und dabei ihre in keinem Geschäft zu erwerbenden Instrumente spielt, wird sie beinahe selbst zu einer Bühnenfigur. In den regelmässigen Auftritten mit Gerhard Meister im Duo «meistertrauffer» hat der musikalische Part einen betont theatralischen Charakter.
Anna Trauffers Kleidung wirkt wie ein Markenzeichen. Assoziationen an einen englischen Butler stellen sich ein, die oft streng in die Höhe getürmten Haare lassen an Trachtenmode denken. Fast unberührt ist ihr Blick. Ihre fein abgestimmte Mimik wird zu einem eigenen Instrument. Bringt Trauffer schliesslich noch das Theremin auf die Bühne, das einzige Instrument, das berührungslos gespielt wird, katapultiert sie die Verwurzelung in der Volksliedtradition in einen Schwebezustand unfassbarer neuer Horizonte.
Verfasserin: Sabine Arlitt, sfd