Terrorangriff in Wien: «Ich erlebe die Tage wie im Nebel»

Schock, Unverständnis, Wut – Österreich trauert nach dem Terrorangriff vom Montag in Wien mit mindestens vier Toten und 22 Verletzten. Ines Schaberger, St.Galler Religionspädagogin, lebte lange in Wien. Sie und Freunde vor Ort erzählen, wie sie die letzten Tage erlebt und wovor sie Angst haben.

«Ich war in einem Lokal in der Innenstadt, als es losging. Zwei Freunde erzählten, dass sie von draussen hereingeschickt wurden und sich verstecken sollen, weil einer mit einer Kalaschnikow herumlaufen würde», beschreibt Christoph B. die Situation während des Terrorangriffs in Wien in der aktuellen Folge des Gott und d'Welt Podcasts. Die ersten Angriffe passierten nur einige Strassen von seinem damaligen Aufenthaltsort entfernt. «Wir sahen die Polizei in Vollmontur und die Cobra herumrennen. Wir schlossen die Fenster und Vorhänge und versteckten uns im Treppenhaus und im Keller. Dort warteten wir bis 3 Uhr morgens.» Dann durfte sich der Augenzeuge auf den Heimweg machen.

Luci J. war gerade auf dem Rad, als sie zehn bis 15 Polizeiautos an sich vorbeirasen sah: «Ich stand an einer Kreuzung und hab auf dem Handy gecheckt, was los ist. Da war die Rede von einem Amoklauf und plötzlich hörte ich Schüsse. Ich habe es gar nicht wirklich realisiert und nur den Radfahrer vor mir angestarrt. Ich fuhr dann so schnell wie möglich nach Hause.»

«Kollektive Sprachlosigkeit der Menschen»

Als «ziemlich krass» beschreibt der Dominikaner Simon H., wie er den Abend erlebt hat: «Man merkte wie sich Trauer und Angst breit machten und auch Wut. Von draussen waren nur noch Sirenen zu hören, aber trotz des Lärms lag eine bedrückende, gespenstische, angespannte Stille in der Stadt – so eine Art kollektive Sprachlosigkeit der Menschen.»

Ines Schaberger, St.Galler Religionspädagogin und mitverantwortlich für den Gott und d'Welt Podcast, stammt aus Österreich und wohnte sechs Jahre in Wien. Auch sie kann die Tat kaum fassen: «Ich habe in dieser Nacht kaum geschlafen. Ich war wie in einem Schockzustand. Ich kenne die Schauplätze und habe in der Nähe gewohnt. Schnell habe ich erfahren, dass alle meine Freunde und Bekannte in Sicherheit sind und war sehr erleichtert. Dennoch erlebe ich die Tage wie im Nebel.» Ganz Wien sei traumatisiert.

Ines Schaberger, Religionspädagogin in St.Gallen, wohnte sechs Jahre lang in Wien und hat dort viele Bekannte und Freunde.

© zVg

«Wie wird darauf reagiert?»

Anfänglich sei die Unsicherheit vor allem aufgrund fehlender Informationen über mögliche Komplizen gross gewesen. Die Leute wussten nicht, ob noch mehr Terroristen unterwegs waren. Die Polizei erschoss einen Täter. Als klar wurde, dass es sich dabei um einen Einzeltäter handelte, der der Terrormiliz IS angehört haben soll, seien neue Fragen aufgekommen, erzählt Georg Schaberger, der in Wien lebt: «Wie wird darauf reagiert? Ich habe schon oft erlebt, dass nach einem solchen Angriff sehr populistisch auf den Islam reagiert wird, nach dem Motto alle Muslime sind Terroristen.»

Solche Reaktionen habe es auch gegeben, aber auch andere, wie die von Bundeskanzler Sebastian Kurz, der sagte: «Es muss uns bewusst sein, dass es keine Auseinandersetzung zwischen Christen und Muslimen, zwischen Österreicher und Migranten ist, sondern den vielen Menschen, die an den Frieden glauben und jenen wenigen, die sich den Krieg wünschen. Es ist ein Krieg zwischen Zivilisation und Barberei.»

«Wir müssen Terrorismus ernst nehmen»

Ines Schaberger hofft, dass sie die Österreicherinnen und Österreicher sich bewusst für die Solidarität entscheiden. «Was Terroristen wollen, ist die Spaltung der Gesellschaft, Hass schüren und Menschen auseinander treiben. Wir müssen den Terrorismus ernst nehmen und dagegen vorgehen, dürfen uns aber unsere Wiener Lebensweise mit den Schanigärten, der Kulturszene und der Kaffeehauskultur nicht nehmen lassen. Das wünsche ich mir.»

Lara Abderhalden/Ines Schaberger
veröffentlicht: 4. November 2020 17:58
aktualisiert: 4. November 2020 17:58
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