Selbstbefriedigung, Magersucht und Pizza: Ein Rundgang an der St.Galler Museumsnacht

4000 Besucherinnen und Besucher sind durch die Museumsnacht flaniert: viele Familien und Junge. Sie liessen sich die Ohren von Feministinnen betäuben, bastelten Lamas und staunten über dystopische Kunst.

Museumsdirektor Peter Fux ist verblüfft. Der Archäologe hatte mit höchstens 20 Personen an seiner Spezialführung über Grabfunde aus Peru gerechnet. Nun stehen 150 Leute Schlange im Historischen und Völkerkundemuseum (HVM) - darunter einige Peruanerinnen und Peruaner, wie das «St.Galler Tagblatt» schreibt. Fux lädt an der Museumsnacht zum peruanischen Fest - ein Herzensprojekt des neuen Direktors, der mit einer Peruanerin verheiratet ist und in Peru gelebt hat.

Im Museum steht eine 1500-jährige Keramik aus Peru mit einem Mischwesen drauf, halb Mensch, halb Katze. Eine Priesterfigur. Fux erzählt von schamanischen Ritualen, an denen sich die Teilnehmer mit Meskalin in halluzinogene Zustände versetzten. Er sagt:

«Sich mit anderen Kulturen zu befassen heisst, in andere Realitäten einzutreten.»

Und weil Kultur auch durch den Magen geht, steht vor dem Museum ein Stand mit Empanadas, peruanischen Teigtaschen.

In der Werkstatt schneiden Kinder Lamas aus Karton aus und verzieren sie mit bunten Pompons. Es sind viele Familien an der Museumsnacht. Sie bleiben lange. Noch um 22.30 Uhr ist das Naturmuseum voller kleiner und grosser Gäste, die mit der Taschenlampe auf Schatzsuche gehen oder sich schminken lassen:

Im Naturmuseum können sich die Kinder schminken lassen und sich dabei in ein Stadttier wie Fuchs oder Fledermaus verwandeln.

© St.Galler Tagblatt/Reto Martin

Weiter gehts vom HVM zum Frauenpavillon am Rande des herbstlich gefärbten Stadtparks, wo eine feministische Performance von Claude Bühler, Anna Villiger, Binta Kopp und Morena Barra auf dem Programm steht. Einige Tage hätten sie im Pavillon experimentiert, viel Kaffee getrunken und geraucht, erzählt eine Künstlerin.

Binta Kopp, Morena Barra, Claude Bühler und Anna Villiger im Frauenpavillon.

© St.Galler Tagblatt/Ralph Ribi

Rosa Projektionen zucken nervös über die Wände. Eine Frau schraubt an den Reglern eines Synthesizers, die zweite pustet in eine Blockflöte, dass das Trommelfell strapaziert wird. Die dritte greift im Schlabberpulli zum Mikro und sagt:

«Hüt wird onaniert. Ooooonaniiiiert!»

Darüber hat der St.Galler Barde Jack Stoiker schon vor über 20 Jahren gesungen. Das Publikum bleibt ungerührt sitzen. Zwei Frauen ergreifen die Flucht in Richtung Gauklerbrunnen, wo es nach Pizza duftet. Efa Guggenbühl und ihr Team von Happy Pizza schieben Margheritas in den Ofen. Überall zufriedene, mampfende Gesichter. Schon die «Antilopen Gang» besang die friedensstiftende Kraft des Teigfladens: «Oh, ich glaube fest daran, dass uns Pizza retten kann, sie verbündet diese Welt. Baby, lass uns Pizza bestellen.»

Die Kombi aus Essen, Leute treffen und durch die Museen spazieren kommt gut an. Rund 4000 Besucherinnen und Besucher flanieren an der Museumsnacht durch 26 Museen, Ausstellungsräume, Bibliotheken, besuchen das historische Polizeimuseum und das Füllimuseum der Papeterie Schiff. «Damit sind wir wahnsinnig zufrieden», sagt Barbara Affolter, Präsidentin der Museumsnacht und Co-Leiterin der städtischen Kulturförderung.

«Unser Ziel ist übertroffen.»

Man hatte sich 3000 Gäste zum Ziel gesetzt. Schon um 18 Uhr wurden die Museen überrannt. Die Rückmeldung der Museen: Sie hätten ein interessiertes Publikum begrüssen können und grosse Freude.

Skulptur von Josef Felix Müller im Kunstmuseum St.Gallen.
 

© St.Galler Tagblatt/Reto Martin

Die Angestellten des Kunstmuseums tragen schwarze T-Shirts mit einer Zeichnung von Kuratoren-Liebling Beni Bischof, der seine Karikaturen auch zwischen die Bilder der Ausstellung «In love with...» platzieren durfte. Auf dem T-Shirt ist ein Gelato zu sehen. Das Cornet ist als «Museum» betitelt, auf den Glacekugeln steht «Art».

Auf einem fast nicht lesbaren Flyer verrät das Museumsteam seine Lieblingsbilder der Ausstellung. Sara Conoci vom Empfang etwa ist angetan von Albrecht Dürers Kupferstich «Melencolia» aus dem Jahr 1514. Sie fragt sich: «Handelt es sich bei der dargestellten Figur um einen nachdenklichen Engel oder eine zornige Boxerin?»

Ein Besucher sagt, das Museum habe für ihn etwas so Ehrfurchtgebietendes wie eine Kirche. Man traue sich kaum zu reden. Die Museumsnacht versucht, diese Schwelle abzubauen. Die Kunst wird zur Kulisse für Begegnungen. Da es zum Glück nicht regnet, lassen sich die Leute von Ort zu Ort treiben. Im Museum im Lagerhaus sind die verstörenden Selbstporträts der Norwegerin Marie Lene Fossen zu sehen. Eine Frau fast nur aus Haut und Knochen. Sie litt an Magersucht und starb mit 33 Jahren. «Berührend und sehr, sehr schmerzhaft» notiert jemand ins Gästebuch.

Die Selbstporträts der Norwegerin Marie Lene Fossen im Museum im Lagerhaus.

© St.Galler Tagblatt/Reto Martin

Ebenfalls im Lagerhaus zieht ein Mann seinen Freund in die Ausstellung der St.Galler Künstlerin Susann Toggenburg hinein. «Komm, das ist mega schön hier», sagt er. «So industrial psychedelisch.» Dicht an dicht hängen nebulöse grosse Schwarz-Weiss-Bilder, geschaffen mit Fett, Graphit und Schablonen. Sie verbreiten Endzeitstimmung. Die Konturen und Formen lassen Raum für Interpretationen: Ist da ein Fernrohr, ein Embryo oder eine Zunge?

Eine Sonnenblume steht in einer Champagnerflasche. Die Gäste trinken Weisswein aus Plastikbechern und diskutieren mit der Künstlerin. Auffallend viele junge Leute lassen sich auf die Kunst ein. «Das ist eine Riesenfreude», sagt Barbara Affolter. «Wir hoffen, dass sie auch unter dem Jahr zurückkommen in die Museen.»

veröffentlicht: 12. September 2022 09:22
aktualisiert: 12. September 2022 09:26
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