«Der härteste Teil des Lebens»: Oscar Scarione im Interview

Quelle: FM1Today/Sven Lenzi

Der FC St.Gallen hat einige Koryphäen und Legenden: Eine davon ist zweifelsohne Oscar Scarione. FM1Today-Reporter Sven Lenzi hat den mittlerweile 38-Jährigen in einem Hotel in Madrid zu einem exklusiven Interview getroffen. Doch was macht Scarione eigentlich hier?

Hier das ganze Interview zum Nachlesen:

Sven Lenzi: Hallo oder «Hola», Oscar! Zuallererst vielen Dank, dass du das möglich gemacht hast, es ist eine absolute Freude für mich. Wir fangen – hoffentlich – einfach an: Wie geht es dir?

Oscar Scarione: Sehr gut. Doch, wirklich gut. Es ist auch mir eine Freude, dich hier in Madrid begrüssen zu dürfen.

Was machst du hier in Madrid? Lebst du hier?

Oscar Scarione: Nachdem ich aufgehört habe, in der Türkei zu spielen, habe ich mich entschieden, nach Madrid zu ziehen. Ich sah hier die Möglichkeiten, im Fussball weiterzumachen oder einen Trainerkurs zu absolvieren. In meine Heimat nach Argentinien zurückzukehren, wäre wahrscheinlich etwas schwierig geworden.

Wenn man eine lange Zeit im Ausland gelebt hat – wie ich es habe – ist es nicht mehr dasselbe wie früher. Deshalb bin ich jetzt zusammen mit meiner Familie in Madrid. Wäre ich alleine, wäre ich nach Argentinien gegangen.

Gefällt es euch hier?

Scarione: Definitiv! Das Wetter ist wunderbar, der Lebensstil hier in Spanien gleicht demjenigen in Argentinien. Zudem leben hier viele Südamerikaner, es war sehr einfach, sich zu integrieren. Die Sprache war natürlich auch ein Pluspunkt. In anderen Ländern hat mir das mehr Kopfzerbrechen bereitet als hier. Aber klar: Es ist jetzt nicht mehr das Gleiche, ich spiele keinen Profifussball mehr.

Hand aufs Herz: Wo kannst du besser leben, hier in Madrid oder doch in St.Gallen?

Scarione: Es ist anders. Madrid ist eine schöne Stadt. Und das Klima ist super. Letzteres kann ich von St.Gallen nicht behaupten (lacht). Das sonnige Wetter konnte ich in St.Gallen zumeist nicht geniessen (lacht erneut).

Es regnet häufig, oder?

Scarione: Genau. Das war der härteste Teil des Lebens in St.Gallen.

Aber man gewöhnt sich dran. Ich erinnere mich immer wieder an damals, wie es war, als ich St.Gallen verliess, um nach Istanbul zu ziehen. Das fiel mir sehr schwer. Ich wollte nicht gehen. Es war so gut und angenehm in St.Gallen. Aber jeder gewöhnt sich an Veränderungen. Das gehört dazu.

Inwiefern sind die Leute hier in Madrid anders als die Leute in St.Gallen?

Scarione: Der Tagesplan ist anders, auch die Kultur unterscheidet sich. Aber: Die Leute sind in beiden Städten herzlich, offen, sympathisch, kollegial und hilfsbereit. Anfangs hatte ich Vorurteile gegenüber den Menschen in St.Gallen, gegenüber den Menschen in der Schweiz. Auch aufgrund der Sprachbarriere ging ich davon aus, dass der Ort, im wahrsten Sinne des Wortes, kühl sein muss.

Aber ich habe mich getäuscht! Ich habe mich wirklich wie zu Hause gefühlt. Alle waren nett und haben mich mit offenen Armen empfangen. Selbiges geschieht übrigens momentan auch hier in Madrid.

Profifussballer gehen ganz unterschiedlichen Dingen nach ihren sportlichen Karrieren nach. Was willst du – jetzt, nach deinem Rücktritt vom Fussballzirkus – machen?

Scarione: Ich habe mich dazu entschieden, hierherzukommen, um einen Trainerkurs zu absolvieren. Momentan befinde ich mich aber in einer generellen Findungsphase. Ich möchte herausfinden, was mir wirklich gefällt und was ich wirklich machen will. Stand jetzt glaube ich schon, dass ich dem Fussballbusiness treu bleiben will. In der Fussballwelt im Allgemeinen. Aber wo mein Platz in dieser Fussballwelt sein wird, weiss ich jetzt noch nicht.

Es gibt viele Wege, die man gehen kann. Man kann Trainer werden, man kann Sportchef werden, aber auch Spielerberater oder Manager. Momentan fehlen mir aber die Erfahrungswerte, um diesbezüglich eine Entscheidung zu treffen. Aber ich möchte jetzt damit beginnen. Nach meiner Rücktrittverkündung habe ich Zeit gebraucht. Ich glaube, da geht es allen Spielern gleich.

Als ich aufgehört habe, hatte ich den Eindruck, ich könnte eigentlich noch weiterspielen. Aber mit zunehmendem Fussballer-Alter schwinden die Vertragsangebote, die man erhält. Hinzu kommt die Familie. Man ist nicht mehr allein. Es muss geklärt sein, wo die Kinder beispielsweise in die Schule gehen können.

Aber ich bin ehrlich zu dir: Nachdem ich aufgehört hatte, Fussball zu spielen, fragte ich mich selbst: «Was mache ich nun?» Wenn man sich an Trainings, Spiele und den allgemeinen Wettbewerb gewöhnt hat, ist es schwierig, sich umzugewöhnen. Deshalb habe ich nach meinem Aufenthalt in der Türkei für eine Zeit in Argentinien gelebt. Ich habe Zeit gebraucht. An den Fussball habe ich aber immer gedacht. Jedoch ohne konkrete Ziele dabei zu haben.

Jetzt bist du also hier. Und du weisst, dass du auf dem «Planet Fussball» bleiben willst. Das bist du ja schon dein ganzes Leben. Hast du dir nie überlegt, diesen «Planeten» zu verlassen?

Scarione: Es gab durchaus Momente und Zeiten, in welchen ich wirklich gar nichts von Fussball wissen wollte. Ich habe mir zum Ende meiner zweiten Zeit in der Türkei (2020, Anm. d. Redaktion) keine Spiele mehr im Fernsehen angeschaut, mich komplett von der Sportart abgewendet. Als eine Art Kurzschlussreaktion, auch Wut war dabei, weil ich wusste, dass mein Körper den Spitzensport nicht mehr wirklich mitmacht.

Gespielt habe ich zwar, ich war aber nicht informiert über das übrige Fussballgeschehen. Man muss sich das so vorstellen: Das, was man immer am liebsten gemacht hat und was einem immer am besten gefallen hat, fällt weg. Aber in letzter Zeit kam diese Fussball-Lust wieder zurück.

Du hast es vermisst.

Scarione: Ja, wirklich.

Spielst du wieder Fussball?

Scarione: Ein bisschen. Hier in Madrid habe ich verschieden Möglichkeiten dazu. Einige Argentinier laden mich gelegentlich ein. Wir kicken ein bisschen und grillieren. An Sonntagen veranstalten sie auch Turniere. Da war ich auch schon dabei. Klar, es ist jetzt alles ein bisschen ruhiger, man «lebt» den Fussball anders. Aber ich spiele, das gefällt mir. Übrigens: Viele Ex-Profifussballer leben hier. Mit Matias Delgado (ehemaliger Spielmacher des FC Basel, Anm. d. Redaktion) spiele ich gelegentlich Fussball. Nur zum Spass versteht sich.

Du bist also in Kontakt mit Matias Delgado?

Scarione: Ja, aber nur um Essen zu gehen oder Fussball zu spielen (lacht). So machen wir das.

Wir haben jetzt zusammen ausführlich über das Leben in Madrid und in St.Gallen geredet. Nun zum FC St.Gallen. Was fühlst du, wenn du das Trikot des FCSG wieder siehst? Was bedeutet dieses Trikot für dich?

Scarione: Ach, wie schön. Ich verbinde viele schöne Dinge mit dem Trikot des FC St.Gallen. Ich glaube, die Zeit in St.Gallen war die wichtigste Zeit meiner Fussballkarriere. Ich bin extrem gereift. Meine Tochter kam damals zur Welt. Es fiel mir damals wirklich schwer, St.Gallen zu verlassen. Wir hatten eine tolle Zeit dort.

Nach dem Aufstieg lief alles super. Ich habe nach wie vor viele Freunde dort. Auch meine Berater, die wie eine Familie für mich sind. Wir sind immer in Kontakt miteinander, ich will sie ständig besuchen. Um aber zurück auf den Fussball zu kommen: Zeitweise wollte ich bis zum Ende meiner Karriere beim FCSG bleiben. Aber die Dinge kamen anders.

Wieso bist du von St.Gallen nach Istanbul gewechselt?

Scarione: Zu jener Zeit waren die Dinge in der Türkei in Ordnung. Der Fussball dort befand sich im Wachstum. Das hat sich in den letzten Jahren geändert, ich wollte nach St.Gallen zurück. Aber mein physischer Zustand war meiner Meinung nach nicht gut genug dafür. Wenn ich Fussball auf Profiniveau spielen will, dann muss ich auch in einem wettbewerbsfähigen Zustand sein. Verletzungen (etwa Komplikationen in beiden Knien, Anm. d. Redaktion) haben mich ausgebremst.

Reden wir über deinen Weg als Fussballer. Du hast in Argentinien, der Schweiz, in der Türkei und Israel gespielt. Würdest du den Weg nochmals gleich bestreiten, wenn du eine zweite Chance bekommen würdest?

Scarione: Man fragt sich doch immer: «Was wäre, wenn? Was, wenn ich das anders gemacht hätte? Wieso habe ich das so gemacht?» Aber in den Momenten der Entscheidungen hat es so gepasst. Rein karrieretechnisch war der Schritt, den FCSG zu verlassen und in der Türkei anzuheuern, gut und richtig. Nochmals, ich wollte St.Gallen nicht verlassen.

Aber als Fussballer muss man sich darauf konzentrieren, was das Beste für seine Karriere ist. Es gibt eben Länder, in denen ich und meine Familie das Leben nicht wirklich geniessen können. Trotzdem hat meine Familie immer oberste Priorität. Ich weiss nicht, ob ich anders entscheiden würde. Ich habe aus all meinen Entscheidungen viel gelernt.

Bist du zufrieden mit deinem Leben als Ex-Fussballer?

Scarione: Im Allgemeinen schon. Man fühlt sich als ehemaliger Profi sein Leben lang als Fussballer, denke ich. Meine Seele wird immer dem Fussball verbunden sein, ich werde immer Fussballer bleiben. Aber eben anders. Nicht, wie es als Profifussballer war. Damals hat mir die Atmosphäre im Stadion, die Fankultur, aber auch der Druck richtig Bock auf den Fussball gemacht. Das ist jetzt weg, ich werde das nie wieder haben. Diese Emotionen und Entscheidungen, die man treffen muss, das Führen eines Teams, das ist wirklich einzigartig. Das vermisse ich schon.

Aber jetzt hast du eine Familie, ein etwas anderes Team...

Scarione: Das ist auch ein Team, ja. Ein zeitweise kompliziertes (lacht). Ich habe vier Kinder, da gibt es immer etwas zu tun. Aber ich geniesse das.

Bist du mit deinen ehemaligen Teamkollegen beim FCSG in Kontakt geblieben?

Scarione: Weniger. Eher mit den Verantwortlichen des Klubs: Dölf Früh (ehemaliger Präsident des FCSG, Anm. d. Redaktion) oder Heinz Peischl (ehemaliger Trainer und sportlicher Leiter des FCSG, Anm. d. Redaktion). Peischl hat meinen Transfer zum FC St.Gallen möglich gemacht. Damals hab ich viel mit ihm geredet, er hat die Möglichkeit für einen Wechsel immer gesehen. Aber auch Franz Malara (ehemaliger Materialwart des FCSG, Anm. d. Redaktion) habe ich bestens in Erinnerung.

Spieler wie Philippe Montandon oder Daniel Lopar habe ich getroffen, als ich in St.Gallen zu Besuch war. Unsere gemeinsame Zeit wird uns für immer miteinander verbinden. Aber die räumliche Distanz macht das Pflegen des Kontaktes schwierig. Deshalb will ich nun öfters in die Schweiz respektive St.Gallen reisen, um ihnen näher zu sein.

Schaust du dir die Spiele des FC St.Gallen gelegentlich an? Oder auch andere Spiele der Super League?

Scarione: Manchmal. Die spanischen Fernsehsender übertragen die Spiele nicht (grinst). Ich muss die Spielübertragungen im Internet suchen. Und wenn ich sie nicht finde, mache ich etwas anderes. Den FCSG-Cup-Lauf von 2022 (Der FC St.Gallen verlor erst im Final gegen den FC Lugano, Anm. d. Redaktion) habe ich aber intensiv verfolgt, das war super, hat mir gefallen. Sie haben eine gute Mannschaft mit vielen jungen Spielern.

Meiner Meinung nach machen alle Beteiligten einen guten Job. Nur der (Cup)-Titel fehlt noch, das wäre für den Klub und die ganze Region sensationell.

Ganz ehrlich: Du vermisst St.Gallen. Ich sehe das Funkeln in deinen Augen, wenn du über den Verein und die Stadt sprichst.

Scarione: Klar, ich war jünger, es war schön. Aber ich vermisse einzelne Dinge aller meiner Fussball-Etappen. Ohne Zweifel: St.Gallen bedeutet mir viel. Nicht zuletzt auch fussballerisch, der Wettbewerb war toll, die Qualität der Spieler hoch.

Nun wirst du in Zukunft also vielleicht Fussballtrainer sein. Welche anderen Pläne verfolgst du zudem noch?

Scarione: Trainer zu werden, braucht Zeit. Das ist nicht so einfach. Diesem Amt muss man sich wirklich zuwenden, sich auch etwas hingeben. Und anderweitig: Wir leben hier in Spanien, die Kinder gehen hier zur Schule. Ich kann also nicht nur meine eigenen Pläne schmieden. Aber mal sehen, was die Zukunft noch so bringt (lacht).

Das weiss ja bekanntlich niemand. Ich wünsche dir aber so oder so alles Gute auf deinem weiteren Weg. Vielleicht sehen wir uns mal in St.Gallen.

Oscar Scarione: Ich hoffe doch!

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veröffentlicht: 30. Oktober 2023 05:51
aktualisiert: 30. Oktober 2023 06:42
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