Ein Leben nach Strich und Faden

Der Toggenburger Bernhard Hollenstein macht Handmaschinenstickereien und ist damit einer der letzten seiner Art. Noch heute stickt der über 80-Jährige jeden Tag und erzählt bei einem Besuch von seinen Krokodil-Stickereien für Lacoste und seiner Stelle in St.Gallen, für die er jeweils mit dem Velo von Mosnang nach St.Gallen radelte.

Ich klopfe bereits zum fünften Mal mit meiner Faust gegen die harte, dunkle Holztüre. Nichts. Das Klingeln habe ich aufgegeben, es scheint als würde der schwarze Knopf schon länger nicht mehr funktionieren. Meine Handknochen schmerzen und ich frage mich zum wiederholten Male, ob ich tatsächlich beim richtigen Haus bin. Doch durch die bestickten weissen Vorhänge kann ich eine grosse Handmaschine ausmachen, ich muss hier richtig sein. Mit Ausnahme des grauen Autos vor der Haustüre, fehlen beim alten Toggenburger Haus in Dreien, oberhalb von Mosnang, aber Spuren von Leben.

Zwischen Vespa und Ski

Handy-Netz gibt es im Toggenburger «Kaff» keines, weshalb die Option anrufen weg fällt. Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Nachbarin heraus zu «schällä», die erstaunlicherweise bereits nach wenigen Sekunden die Tür öffnet. «Ich möchte zu Herrn Bernhard Hollenstein, dem Handmaschinensticker», sage ich und sie meint, dass er möglicherweise gerade sein Mittagsschläfchen mache, ich solle einfach eintreten.

Dies tue ich dann auch, gemeinsam mit der Nachbarin und tatsächlich nach einigen «Bernhard»-Rufen kommt der Handmaschinensticker die Treppe herunter. Er lächelt. Seine noch etwas verschlafenen blauen Augen mustern mich gespannt. «Schön haben Sie es hier», sage ich. Die Nachbarin winkt zum Abschied. «Das ist mein kleines Lädeli», sagt Bernhard Hollenstein und deutet auf die vielen kleinen Körbli, in denen sich gestickte Ziegen, Hunde, Kühe, Blumen oder Katzen häufen. Mitten in seinem Lädeli stehen eine Vespa und an die Wand gelehnt ein Paar Ski.

Der Eingangsbereich in Bernhard Hollensteins Haus. (Bild: FM1Today/Lara Abderhalden)
© Der Eingangsbereich in Bernhard Hollensteins Haus. (Bild: FM1Today/Lara Abderhalden)

Von Lacoste-Krokodilen über Trachtenstickereien

«Wollen Sie einen Kaffee?», fragt er. Ich nicke, sehr zu seiner Freude: «Gut. Ich brauche nach meinem Mittagschlaf immer einen Kaffee. Machen Sie es sich doch in der Stube gemütlich.»

Das tue ich und fühle mich beim ersten Schritt in die warme Stube wohl. Es ist ein altes Bauernhaus, 300-jährig, wie er mit später verrät, in dem Bernhard Hollenstein wohnt, alt und tief. Gut bin ich mit meinen 1,60 Meter nicht allzu gross gewachsen, sonst hätte ich gebückt bis zur Eckbank am Fenster gehen müssen. «Früher musste ich immer den Kopf einziehen, mittlerweile nicht mehr», sagt Bernhard Hollenstein und fährt mit seiner Hand in der Luft den Abstand zwischen Haare und Decke ab. Überall in der Wohnung verteilt sind Stickereien zu sehen. Die Vorhänge, die Kissen, Jacken, Hüte, Pullover: alles hat kleine, bunte Muster drauf.

Ein Blick in das Arbeitszimmer von Bernhard Hollenstein. (Bild: FM1Today/Lara Abderhalden)
© Ein Blick in das Arbeitszimmer von Bernhard Hollenstein. (Bild: FM1Today/Lara Abderhalden)

«Haben sie alle Stickereien selbst gemacht?», frage ich, als sich Bernhard Hollenstein mit einem Tablar, mit einem Krug Kaffee und einer Nusstorte drauf, zu mir setzt. «Das meiste, ja. Und jetzt erzählen Sie, was führt sie zu mir?» Ich erkläre ihm, dass ich gehört hätte, dass er einer der letzten Handmaschinensticker sei und ich sehr gerne ein Portrait über ihn schreiben würde. Er schmunzelt: «Und ich dachte sie seien eine Kundin aus Unterwasser», eine Frau Abderhalden bestelle nämlich regelmässig bei ihm.

«Dann kommen Sie einmal mit», sagt der 82-Jährige, rückt seine Brille zurecht, erhebt sich von der Sitzbank und führt mich in sein Arbeitszimmer. «Hier entstehen die Entwürfe», erklärt er und nimmt einen Stapel mit zusammengerollten Zeichnungen aus einem Regal. Die Zeichnungen seien immer sechsmal grösser als die Stickerei. Wir setzen uns auf den Boden. Bernhard Hollenstein nimmt verschiedene Kartonschachteln hervor, zeigt mir seine Stickereien. Von Trachtenstickereien, über Gemeindewappen bis hin zu Lacoste-Krokodilen – der Toggenburger hat schon fast alles gestickt, was die Schweiz oder die Welt an Stickereien zu bieten hat.

Der Handmaschinensticker zeigt einen seiner Entwürfe, die immer sechsmal grösser sind als das Original. (Bild: Lara Abderhalden)
© Der Handmaschinensticker zeig einen seiner Entwürfe, die immer sechsmal grösser sind als das Original. (Bild: Lara Abderhalden)

Mit dem Fahrrad von Mosnang nach St.Gallen

Immer neue Motive tauchen auf den grossen, runzligen Arbeiterhänden auf und ich frage ihn, wie er dazu gekommen ist, Handmaschinensticker zu werden?

Er erzählt, dass bereits sein Vater hier in diesem Haus an den Stickmaschinen gearbeitet hätte. «Wir mussten unserem Vater immer die Fäden einfädeln.» Als Bernhard Hollenstein 15 Jahre alt war, kam ein Herr aus St.Gallen, ein Kunde seines Vaters. Dieser habe Bernhard Hollenstein sogleich anstellen und mitnehmen wollen. Und so kam es, dass er sich eines Montagmorgens, es war ein 3. August, auf sein Velo schwang und von Mosnang nach St.Gallen radelte. «Ich fuhr um 5 Uhr morgens los und brauchte für den Weg nach St.Gallen ungefähr zwei Stunden.»

Durch diesen Mann, Albert Würmli, ist Bernhard Hollenstein zur Firma Altoco gestossen. (Bild: FM1Today/Lara Abderhalden)
© Durch diesen Mann, Albert Würmli, ist Bernhard Hollenstein zur Firma Altoco gekommen. (Bild: Lara Abderhalden)

In Westen der Stadt musste er Passanten Fragen, wie er denn jetzt zur St.Leonhard Strasse zur Firma Altoco käme, in welcher er, von da an angestellt war. 40 Jahre lang arbeitete Bernhard Hollenstein für die Firma in St.Gallen. Fuhr anfangs jeden Tag mit dem Fahrrad und dem Neccessair zwischen Lenkstange und Lampe den zweistündigen Weg hin und zurück.

«Es war eine Verrücktheit für mich», Bernhard Hollenstein schaut aus dem Fenster, «aber eine schöne Zeit. Ich habe später in einem Studentenheim gewohnt. Die haben mich dort aufgenommen. Ich hatte keine Ahnung vom Stadtleben und war viel jünger. Die verrückte Bande konnte alles besser als ich als Junge vom Land. Ich musste mich wehren, aber es war schön.»

Arbeit kostet 20 Franken pro Stunde

Nach 40 Jahren musste die Altoco den Betrieb einstellen, Bernhard Hollenstein verlor seinen Job und kehrte ins Toggenburg zurück. «Es war schwierig für mich.» Einige Kunden hätte er mitnehmen können und die Stickereien in seinem Keller mit der Maschine erledigen können, es sei aber ein stetiger Kampf ums Überleben gewesen. «Ich hatte das Ziel jeden Tag zehn Stunden zu arbeiten, das gab 200 Franken pro Tag und reichte um mich und meine Frau durch zu bringen.»

Heute arbeitet Bernhard Hollenstein immer noch. Allerdings nicht mehr ganz so viel wie früher: «Ich stehe jeden Morgen auf, erledige einige Arbeiten, mache eine Mittagspause und setze mich dann manchmal nochmals an die Maschine.» Mittlerweile lebt Bernhard Hollenstein alleine im Haus, seine Frau starb vor einigen Jahren. «Auch heute arbeite ich noch des Geldes wegen, aber auch, weil es einfach schön ist. Es ist schön, wenn man am Morgen aufstehen kann und ein Ziel hat.» Ausserdem hätte die Tochter mittlerweile angefangen, das Handwerk zu erlernen. Dies motiviert den 82-Jährigen zusätzlich.

Stickereien für Teddybären gemacht

Wir sind nun im Untergeschoss angekommen. Bernhard Hollenstein setzt sich an die Maschine aus dem Jahr 1890. Er fährt mit einem Spitz an einer Metallkonstruktion die Skizze vor ihm ab. Punkt für Punkt. Alle diese Punkte werden automatisch auf den grossen Stoff gestickt. Stich um Stich. Faden um Faden. Bis auf dem weissen Stoff eine prächtige Blume erstrahlt. Bernhard Hollenstein ist konzentriert, nur das leise Rattern der Maschine ist zu hören.

Dann beginnt er zu erzählen: «Das speziellste, was ich je sticken durfte, waren Blumen für einen Teddybären. Oder Edelweiss-Motive für eine Uhr», aber auch die Lacoste Krokodile seien speziell gewesen. «Mein Vater hat jahrelang für Lacoste Krokodile gestickt und ich später auch. Ich habe es kürzlich wieder ausprobiert und ich kann es noch», er deutet auf einige Rollen mit dem grünen Krokodil. «Aber darüber sollten Sie wohl lieber nicht schreiben», wieder dieses beinahe spitzbübische Lächeln.

Die Lacoste-Krokodile und Edelweisse kann Bernhard Hollenstein immer noch herstellen. (Bild: FM1Today/Lara Abderhalden)
© Die Lacoste-Krokodile und Edelweisse kann Bernhard Hollenstein immer noch herstellen. (Bild: Lara Abderhalden)

Bernhard Hollenstein schaltet die Maschine aus, erhebt sich vom Stuhl und seufzt. «Wissen Sie, es gibt so viele Dinge, die ich gerne noch Sticken würde. Ich habe einen ganzen Estrich voll mit Motiven und Fäden, aber ich habe einfach keine Zeit dafür.» Und andere Pensionäre wissen nicht, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen, denke ich. «Ich möchte gerne noch lange Leben und genau das tun, was ich jetzt mache.»

Und das wünsche ich Bernhard Hollenstein von ganzem Herzen, als ich zum Abschied seine Hand drücke, er mir eine Karte mit einem gestickten Christbaum in die Hand drückt und sagt: «Machen Sie es gut und kommen Sie das nächste Mal ohne Klopfen einfach rein.»

FM1Today hat Bernhard Hollenstein im Rahmen der Serie «Die Letzten ihrer Art» besucht. Während des Dezembers werden weitere Persönlichkeiten, welche die letzten in ihrem Handwerk sind oder einen speziellen Beruf ausüben, vorgestellt. Alle Porträts im Überblick gibt es hier.
veröffentlicht: 3. Dezember 2018 05:51
aktualisiert: 29. August 2019 09:08
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