Mein Sinn des Lebens ist ein kleiner Hügel
Es ist keine Anmut, die du verkörperst. Es ist eher ein flüsterndes «hier bin ich», das du mit leicht geschwellter Brust von dir zu geben scheinst. Du erregst keine Aufmerksamkeit – bist bekannt als der «Antennen-Berg». Definiert durch einen strahlenden, elektrischen Stab, der gen Himmel ragt und dessen Präsenz nicht alle glücklich macht. Dein Name «Chapf» erfordert nicht nur eine feuchte Aussprache, beschriebe das Wort eine Bewegung, wäre es ein Abwinken mit der Hand. Eigentlich, lieber Chapf, ist deine Prädestination, zu ruhen und zu schweigen und keinesfalls dich besteigen zu lassen.
Und doch hast du etwas Magisches. Anziehendes. Verführerisches. Entlang deiner rechten Schulter zieren Bäume den Weg, als würden sie dich tagtäglich besuchen, doch nicht vorwärts kommen.
Wenn ich morgens auf der Toilette sitze, den Vorhang leicht zur Seite streiche, beobachte ich die wandernden Bäume und möchte unter ihnen sein. Deshalb kann ich nicht anders, als immer wieder auf dich hereinzufallen. Lieber Chapf, du bist zum Kotzen, aber auch mein persönlicher Sinn des Lebens.
Ich erinnere mich an unseren ersten Kontakt, wie meine in weisse Turnschuhe gehüllten Füsse deinen feuchten, matschigen Grund berührten. Ein kleiner Weg führt in den Wald unterhalb des Chapfs. So scheint es zumindest. Denn der Weg ist plötzlich fertig und die einzige Möglichkeit aufwärts eine steile Waldpassage übersät mit Tannennadeln, die sich beim Kraxeln auf allen Vieren in die Handflächen bohren. Die Turnschuhe sind längst braun und mit Erde gefüllt. Getrieben von der Hoffnung auf baldige Weitsicht, kämpfe ich mich über Wiesen, zwischen Kühen und unter Bäumen hindurch quer über eine Lichtung, nur um schliesslich zu merken, dass der Chapf verschwunden zu sein scheint.
So geht es mir jedes Mal. Der Berg ist stets im Blick und hinter jeder Waldpassage wird der Chapf vermutet. Aber er ist nie da. So viele Wege, die ins Leere verlaufen, so viele Wälder, die keine Lichtung bringen, so viele Wiesen, die nicht dem Chapf entspringen. Dieser Hügel will keine Menschen. Er scheint so nah und bezwingbar und doch ist der Chapf keine Wanderung uf ein Chlapf. Er ist eine Odyssee.
Kommt Zeit, kommt Rat. Es gibt tatsächlich einen Weg, der auf den Chapf führt. Er ist viel zu simpel, für einen Berg wie den Chapf. Viel zu offensichtlich, zu geradlinig, zu einfach. Wie kann ein Berg nur einen Weg haben, wenn er doch rund und abfallend ist?
Neben all dem Frust, dem Hass und der Erniedrigung, die mir der Chapf schon brachte, ist dessen Schönheit, die Aussicht, die einen auf dem Gipfel erwartet. Sie ist die Strapazen wert, die blauen Flecken, verkratzten Arme, das Fluchen, das Irren. Das verzweifelte Suchen des Wegs auf einem Handy ohne Empfang. Die Aussicht rechtfertigt die vielen Male, die ich erschlagen und deprimiert, ohne es auf den Gipfel geschafft zu haben, zuhause ankam und den Chapf böse von der Toilette aus anstarrte.
Und die Aussicht ist es auch, die mich motiviert, nicht immer auf dem einfachen Weg zu bleiben – denn ich bin mir nach wie vor sicher, es gibt weitere Wege, die zum Chapf führen.
Ich glaube, jeder von uns hat seinen eigenen persönlichen Chapf. Ein Lebensziel – für das wir manchmal komplizierte Wege gehen, statt einfach den Schildern zu folgen, bis wir merken, dass manchmal schon der Weg allein, das Ziel sein kann.
Chapf, du verkörperst keine Anmut, aber gibst mir jeden Morgen Mut, wenn ich auf der Toilette sitze und die wandernden, irrenden Bäume auf deiner Schulter auslache.