«Frag mich nicht, wie es meinem Kind geht»

Quelle: FM1Today / Lena Rhyner

Es gibt Kinder, über die die Eltern nicht gerne reden. Zum Beispiel, wenn der volljährige Sohn seit fünf Jahren mit Depressionen zu Hause ist. Oder wenn die Tochter wegen eines Deliktes im Gefängnis sitzt. Eine Mutter erzählt von ihrem Sohn, über den sie eigentlich lieber nicht spricht.

Es hat alles so gut angefangen. Camille und ihr Mann ziehen ihre beiden Söhne in wunderbarer Idylle im Kanton Graubünden gross. Ein Häuschen im Grünen, die Grosseltern wohnen um die Ecke. Die 48-jährige Camille ist Pädagogin, ihr Mann Arzt. Eine behütete Kindheit für ihre beiden Söhne. Der ältere Sohn legt eine makellose Karriere hin und doziert mittlerweile an einer Schweizer Universität. Der jüngere Sohn schliesst die Sekundarschule mit guten Noten ab, ist sozial eingebunden und macht viel Sport. Doch irgendwo zwischen Erwachsenwerden und Kanti-Abschluss knickt seine Erfolgskurve ein. «Plötzlich war da die psychische Krankheit», sagt Camille.

Ihr Sohn, den wir hier Jonas nennen, hat Angst- und Zwangsstörungen, genauer Gedankenzwänge und Depressionen. Eine Krankheit, die es ihm manchmal monatelang nicht ermöglicht, aus dem Bett zu steigen. Gelähmt von den Symptomen der Depression und den Zwängen ist er auch mit 25 Jahren noch ohne Kanti-Abschluss, ohne Job. Trotz seiner Volljährigkeit lebt er noch zu Hause, denn an Selbständigkeit ist noch nicht zu denken. Bei diesem Gespräch mit uns scheint Camille, die anonym bleiben will, ziemlich offen darüber sprechen zu können. Doch das war nicht immer so.

«Frag nicht, wie es Jonas geht»

Jonas ist ein Tabu-Kind. Er ist dieses Kind, über das seine Mutter Camille nicht gerne spricht. «Wenn Bekannte von mir wissen wollen, wie es meinen Söhnen geht, weiche ich aus», sagt sie. Oder sie erzähle einfach vom ältesten Sohn, dem «erfolgreichen». Sie hoffe, dass keine Rückfragen nach ihrem Jüngsten und dessen Zukunftspläne kämen. «Falls doch, sage ich einfach, dass er sich noch nicht entschieden habe.»

Es gab Zeiten, in denen sie gewisse Kontakte mied. Camille erzählt von zwei Freundinnen, die sie nur mit den Erfolgsgeschichten ihrer Kinder bombardierten. «Ich hatte keine Kraft, mir ihre Lobeshymnen auf ihre Kinder anzuhören und dann von den Problemen zu erzählen, die wir zu Hause haben.»

Bedrohliche Gedanken bestimmen den Alltag

Der Alltag mit Jonas und seinen Gedankenzwängen ist anstrengend. Bei dieser Zwangsstörung belasten ihn ständig bedrohliche Gedanken, die er nicht steuern kann. Das kann sich in Ticks auswirken. «Wenn er seine Tabletten nimmt, muss er nach drei geschluckten zur Wand und zurück laufen, bevor er die anderen einnehmen kann», so Camille. Alles habe ein Ritual, eine klare Abfolge, wie es gemacht werden müsse. Doch was genau in ihm vorgeht, das wisse nicht einmal sie.

Betroffene sind nicht alleine

Der Begriff Tabu-Kind ist nicht im Duden zu finden. Er ist eine Kreation von Heidi Mattmüller, Beraterin bei der St.Galler Fachstelle Eltern 7x24 – eine Beratungsstelle hauptsächlich für Eltern von Adoptiv- und Pflegekindern. «Tabu-Kinder sind oftmals volljährige Kinder, die nicht ins Schema passen. Sie haben keine abgeschlossene Ausbildung, sind im Gefängnis, haben eine psychische Krankheit oder sind einer Sucht verfallen», so Mattmüller. Zusammen mit anderen Fachpersonen hat sie einen Workshop für Eltern lanciert. Die Betroffenen sollen merken: Sie sind mit diesem Problem nicht alleine.

Das Dilemma mit dem Erwachsensein

Jeder siebte junge Erwachsene zwischen 16 und 25 Jahren kennt mittlere bis starke Symptome von Depressionen – mit Eltern, die sich mit der gleichen Ohnmacht wie Camille herumschlagen müssen. «Da Jonas mittlerweile erwachsen ist, kann er für sich selber entscheiden. Und trotzdem ist er komplett von uns abhängig.»

Seit fünf Jahren leidet ihr Sohn an den Gedankenzwängen. Seit fünf Jahren hat sich bezüglich seines Gesundheitszustandes nicht viel geändert. Wenn Bekannte zum x-ten Mal fragen, ob es Jonas denn besser gehe, muss Camille antworten, dass sich nicht viel getan hat. Für das Gegenüber sei das oft unverständlich, warum die Eltern nicht rigoroser durchgreifen. «Wir können ihn zu keiner Therapie zwingen», sagt Camille.

Rechtfertigen und Schuldgefühle

Eltern von Tabu-Kindern hängen zwischen Verantwortung und Loslassen, Rechtfertigung und Schuldgefühlen. Warum passt das eigene Kind nicht in die Gesellschaft? Warum hat es diese psychische Krankheit? «Eltern machen sich Vorwürfe. Man hinterfragt die Erziehung und das eigene Verhalten», sagt Mattmüller von der Fachstelle Eltern 7x24. Und Camille: «Der andere Sohn ist gesund und erfolgreich, ihn haben wir gleich erzogen. Trotzdem sucht man nach Ursachen und Antworten.»

Auch wenn Camille in Gesprächen mit Bekannten, Verwandten und Freunden dem Thema lieber ausweicht, hat das nichts mit der Liebe zu ihrem Sohn zu tun. Sie und ihr Mann tun alles, damit es für Jonas doch noch Perspektiven gibt. Immer wieder gebe es neue Hoffnungsschimmer. «Gut möglich, dass er bald ein kleines Pensum in einer Firma arbeiten kann», sagt Camille verhalten. Dass er wirklich dort arbeite, glaube sie erst, wenn es passiere.

veröffentlicht: 21. Oktober 2021 08:40
aktualisiert: 21. Oktober 2021 11:34
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